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Weite Welt

Leise surrte und summte die große Maschine, bis ein schriller Pfiff die Luft schnitt. Laut brüllt nur das Ungetüm auf und wirft sich mit enormer Anstrengung vorwärts. Ein Ruck geht durch die Wagen, Hände greifen haltsuchend um sich, in der Luft fliegen noch die Worte des Lautsprechers: “Vorsicht bei der Abfahrt“. Die Ãœberdachungen verschwinden schnell hinter dem hinwegstürmenden Zug. Der graue Himmel kommt durch, graue Häuser stehen rechts und links vom Bahndamm, werden kleiner, bunter, weniger, bald erstrecken sich weitum grüne Wälder, Wiesen, beackerte Felder. Das Grau des Himmels reißt auf, läßt ein dunkles Blau hinaus und endlich auch die Sonne. Strahlend scheint sie herab auf Wiesen und Wälder, Seen, Flüsse und Felder. Nur selten ein Haus, eine Straße, Menschen. Vögel kreisen in der Luft, ein Schwirren von vielen funken Flattertierchen. Hinter einer rotweißen Schranke steht ein kleines Kind. Es winkt mit den Armen, die Augen leuchten hellblau aus dem fröhlichen Gesicht, die Lippen bewegen sich. Das Kind ruft dem Zug etwas zu, könnte sich ein Fahrgast denken —  wenn er es überhaupt bemerkte — und lauschen.
Nur das Rauschen des dahineilenden Zuges —  der Schrei des Kindes dringt nicht durch.
“Nimm mich mit, nimm mich mit, mächtige Eisenbahn. Nimm mich mit in die große, weite Welt“. Aber die Eisenbahn hört nicht und hält nicht. “Oh, nimm mich doch mit, große Eisenbahn, ich will die große, weite Welt erleben“, ruft das Kind und schaut mit traurigen, großen Kinderaugen enttäuscht dem fortfahrenden Ungetüm hinterher. Dann nimmt es seinen Stecken mit der Schnur daran, setzt sich darauf und ruft: “Trage mich fort, trage mich fort, starkes Pferd. Trage mich fort in die große, weite Welt“. Und das kräftige Pferd galoppiert los über die grünen Wiesen, durch den dunklen, wilden Wald voller Räuber und auf dem klappernden Feldweg entlang bis in den heimatlichen Stall. Dort bekommt es einen großen Eimer Hafer und Wasser.
“Mutter, Mutter, ruft das Kind, “die Eisenbahn will mich mitnehmen, das nächste mal, wenn sie vorbeikommt. Mutter, die große Lokomotive hat mir zugepfiffen, als sie michgesehen hat. Mutter, morgen fahre ich mit der Eisenbahn in die große, weite Welt, wo der Vater ist. Ich werde viele Abenteuer erleben und dann zu dir zurückkommen“.
„Morgen fahr ich mit der Eisenbahn in die weite Welt“, flüstert das starke Pferd dem Reisigbesen zu, der neben ihm an der Wand steht. “Oh, wie schön, du mußt mir von der Welt erzählen, von den fremden Straßen, Gassen und Höfen“, antwortet der Besen, ehe er wieder die Mutter bei der Hand nimmt und den Hof kehrt.
Der Zug fährt pfeifend in die Erde hinein. Dunkel ist es dort unten, moderig-feucht. Und wie er wieder hinausschlüpft aus seinem Erdloch, ist die Sonne verschwunden, der Himmel ist grau. Häuser stehen rechts und links vom Gleis, bunte, kleine Häuser, die immer größer und grauer werden. Alles wirkt traurig, der Beton, die Straßen, der Bahnhof. Ruckend hält der Zug. Menschen, starre, bleiche Gesichter, gezeichnet vom Leben steigen heraus, verschwinden im Grau des Alltags, der Straße, der Stadt. Worte kommen aus dem Lautsprecher: “Bitte alle aussteigen, der Zug endet hier“. Alle steigen aus, sind ausgestiegen, das Ungetüm wird still, löscht seine Lichter, steht da wie tot.
„Mutter, gib mir ein Tuch, damit ich mir ein Bündel packen kann, denn morgen ziehe ich in die weite Welt, wo der Vater ist. die große Eisenbahn nimmt mich mit in die weite Welt.“ Und die Mutter gibt ihm ein großes, buntes Tuch. Und so packt das Kind sein Bündel:
„Meinen Bären nehme ich mit, er wird mich sicher vor den bösen Drachen beschützen. und den Kristall nehme ich mit, er wird mir den Weg zeigen zu der Prinzessin. und den Stern aus Goldfolie nehme ich auch mit, den schenke ich der Prinzessin. Die Prinzessin nehme ich mit nach Hause zurück und heirate sie. Und der Mutter bringe ich viele Schätze mit, die ich erkämpfe. Denn ich bin ein tapferer Bauernsohn, der in die weite Welt zieht, sein Glück zu finden.“ Und dann schnallt er den Gürtel um das Bündel und bindet es an den Stecken, den er morgen über die Schulter legen will. “Die Prinzessin wird schön sein, Mutter, so schön wie du“, sagt er beim zu-Bett-Gehen. Und dann träumt er von Drachen und Räubern, die er mit seinem Bären besiegt, von Schätzen, die sie erkämpfen, von der schönen Prinzessin und der glücklichen Heimkehr.
Der Bär freut sich ungemein über das Abenteuer in der großen, weiten Welt. “Ich werde ihn beschützen wohin er auch geht und werde ihn mitsamt der Prinzessin wohlbehalten zurückbringen“ verspricht er den anderen Tieren, die auf dem Schrank lagern. “Und erzählen mußt du“, sagen die Tiere, “von all den Abenteuern in der weiten Welt.“
Und die Mutter legt ihrem Heldensohn noch einen rotbackigen Apfel in sein Bündel.
Und dann am nächsten Morgen wandert er los, sein Bündel über die Schulter gehangen, den Bären an der Hand. So kommen sie zu den Gleisen der Eisenbahn, die sie in die weite Welt und das Abenteuer führen. Die Sonne spiegelt sich in den funkelnden Gleisen und begleitet sie auf ihrem Weg. Sie springen von Schwelle zu Schwelle, und er ruft: “Ich komme Prinzessin, ich komme. Und ihr bösen giftigen Drachen, fürchtet euch vor mir und meinem starken Bären, wir werden euch besiegen und alle Schätze wegnehmen, die ihr geraubt habt. Und den Vater werden wir auch finden und ihn mit nach Hause bringen. Und dann werde ich mir ein Schloß bauen, das schönste von der Welt. Es wird so strahlen, wie die Sonne. Und meine Mutter bekommt ein ganz feines Zimmer und mein Vater auch. Und für meiner Bären lasse ich einen großen Park anpflanzen mit starken Bäumen zum Klettern. Und meine Prinzessin werde ich heiraten und mit ihr in dem Schloß wohnen. Wo bleibt sie denn nur, meine Prinzessin? Wir sind doch schon so weit gelaufen. Noch eine Schwelle und noch eine Schwelle, komm Bär, noch eine Schwelle. Oh, welch ein herrliches Abenteuer, nicht wahr, Bär? Oh, wie glücklich ich bin, Mutter!“ 

Dann kommt der Zug und pfeift.

 

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