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Buch 2 Besprechung

Wissenschaftlich begründeter Beitrag der Heileurythmie im interdisziplinären Heilverfahren bei stationären Magersüchtigen: eine außergewöhnlich gute Grundlage zur Differenzial-Diagnostik, Wesensglieder-Anamnese und heileurythmischen Therapie.

Zur wissenschaftlichen Fundierung.

Es ist das große Verdienst dieses Buches, dass es nicht nur einen über 30 Jahre gesammelten Erfahrungsreichtum anbietet, sondern dass die heileurythmische Therapie anhand einer Studie vor dem Hintergrund von etwa 400 Magersüchtigen und Ess-Gestörten Patientinnen von den beiden Autoren Gisela Bräuner-Gülow und Helge Gülow nach methodologisch-wissenschaftlich gültigen Maßstäben durchgeführt wurde.

Der zweite bemerkenswerte Verdienst ist es, dass diese erfahrene und in Magersucht spezialisierte Heileurythmistin und Autorin mehrere neue Ansätze im Fachbereich der Heileurythmie – aus einer äußerst präzisen und über Jahre durchgeführten Beobachtung an Bewegungsmodalitäten der Patienten – entwickelt hat, sowohl im Bereich der Differenzial-Diagnostik wie im Bereich der therapeutischen Vorgehensweisen als auch im Bereich der wissenschaftlichen Validitäts-Kriterien.

Ein drittes wichtiges Verdienst ist es, dass es der Autorin gelungen ist, die von ihr entwickelten diagnostisch-therapeutischen Kriterien und Vorgehensweisen sowohl den Diagnose-Kriterien der DSM IV, wie der menschenkundlich-ärztlicher Diagnostik, nahtlos entlang zu entwickeln. Die von ihr entwickelten Kriterien der sog. ,content-validity' ermöglichen es, in der Heileurythmie die Bewegungs-Modalitäten der unterschiedlichen Ess-Störungen nach Wesensglieder-Dynamik einzuordnen. Dies gilt ebenfalls für die Kriterien der sog. ,construct-validity', indem es gelungen ist die Begriffe (constructs) nicht bloß theoretisch zu fundieren, sondern ausführlich mit Fallbeispielen zu belegen und sie als wirksam in der therapeutischen Vorgehensweise einzubringen. Nachweislich werden die auf Grund dieser Arbeit gefundenen und durchgeführten heileurythmischen Übungen – in Zusammenhang mit der interdisziplinären Arbeit auf Station – zur Heilung der Ess-Störungen führen können. Dies ist ein wertvolles, prognostisches Instrument und dient somit den Kriterien der sog. ' criterion-validity'.

 

Zur Bewegung als Heilung

Bekanntlich ist die Magersucht geprägt von Bewegungszwängen verschiedenster Art, deren Ziel in der Sehnsucht nach seelischer Heimkehr und/oder Machtlosigkeit der sozialen Lebenslage gegenüber urständet, was auf dem Wege zur körperlichen Idealgestalt die Abmagerung oder unterschiedlicher Ess-/Brech-Verhaltensweisen zur Folge hat. In der Magersucht zeigt sich eine zwangsläufige Tätigkeits- und Bewegungs-Obsessivität, die letztendlich über massivste katabole Abbauprozesse der Körperfunktionen zum Tode führen kann. Gerade hier greifen die von Gisela Bräuner-Gülow genutzten und auch weiterentwickelten heileurythmischen Übungen und erweisen sich imstande, die Richtung der katabolen Körperdestruktion ins Gegenteil zu verkehren. „Die körperliche Bewegung darf nicht mehr zum Abbau weiterer physischer Substanz missbraucht werden, sondern soll vielmehr den Leibaufbau unterstützen. Genau das aber bietet die Heileurythmie“1, indem sie sich präzise anschließt an die medizinischen und pflegerischen Maßnahmen.

Zur Diagnostik: Menschenkundliche und wissenschaftliche Kriterien

Die Heileurythmie (Heilung mit harmonischen Rhythmen) als Fachwissenschaft fußt auf einer menschenkundlichen Wesensglieder-Erkenntnis und verfügt somit über eine Fülle von urbildlichen Bewegungsvorgehensweisen, sowohl bezüglich der Dreigliedrigkeit2 wie auch in Bezug auf die Viergliedrigkeit3 des Menschen. Gisela Bräuner-Gülow hat eine hervorragende Leistung erbracht, indem sie die differenzialdiagnostischen Kriterien der DSM IV4 durch Jahre sorgfältiger Observation und Überprüfung den Bewegungs-Formen der Patienten – je nach Differenzialpathologie – in pathotypische Bewegungs-Typen (Bewegungsanomalien der Ess-Störungstypen) menschenkundlich einordnen konnte. Die restriktive Anorexie, die atypische restriktive Anorexie und das Binge Eating /Purging-Verhalten erhalten somit ihre ureigene Bewegungsskulptur, in der sichtbar und diagnostisch erfassbar wird, inwiefern der Nerven-Sinnes-Pol herrschend ist oder ausschweift; inwiefern der rhythmische Bereich der Stimmungslabilität oder Erstarrung unterstellt ist und inwiefern zwanghaft verhärtet oder verflüchtigt der Stoffwechselbereich seine Lebensnot zeigt. Dazu wird diese Typologie der vier Bewegungsskulpturen von den Wesensgliedern unvollständig, inadäquat oder sogar kaum mehr durchdrungen. Die Autorin ordnet deren Kernqualitäten wie folgt zu: Der physische Leib und die messbaren körperlichen Funktionen, der Ätherleib und die rhythmischen Bewegungsabläufe, der Astralleib und die Durchseelung des Bewegungsausdrucks, die Ich-Organisation und die Ich-Präsenz in der Bewegung.

Von der Therapievorbereitung zur Therapie

Das Gesamtgefüge der anhand der Phänomene ausgewogenen Differenzial-Diagnostik führt zu spezifischen vorausgehenden Übungen, deren Ziel es ist, den Organismus für den heileurythmischen Übungskanon vorzubereiten. Gisela Bräuner-Gülow führt die Patientinnen durch den von ihr modifizierten und teilweise weiterentwickelten Urkanon der Stoffwechselreihe, der Vokal- und Konsonanten-Übungen, der Stabübungen und der seelischen Übungen hindurch und zeigt damit, wie sich die Inkarnation allmählich einstellt. In der Vertiefung der Atmung, in der Bewegungsperistaltik des Darms, in der Steigerung der Körpertemperatur und in der Freude an den Übungsreihen wird maßgeblich die Verkehrung des Stoffabbaus eingeläutet. Bemerkenswert dazu ist, dass es der Autorin offensichtlich gelingt, den Patientinnen überhaupt Übungsfreude an der Heileurythmie und an ihrer Heilung nahe zu bringen, denn es ist jedem Fachmann klar, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Das gelingt nur, wenn von Seiten der Heileurythmisten ein tiefes und feines Verständnis sowohl für das Pubertätsalter, die Krankheiten und die Pathogenese vorhanden ist.

Therapie, Ergebnisse, Quantifizierung der Prozesse

Es ist das große Verdienst dieser Arbeit, dass gezeigt werden konnte, wie die Ergebnisse der Doppel-Diagnostik (anthroposophisch und schulmedizinisch), der Differenzialdiagnostik der Bewegungstypologien, der lebensnah beschriebenen Bewegungsskulpturen der vier Krankheitsbilder sowie deren Heilungsweg durch die heileurythmischen Übungen hindurch – im Kontext des drei- und viergliedrigen Menschen – zu heilenden Prozessen führen können.

Sie sind während des stationären Aufenthalts der Patientinnen nach den entwickelten Kriterien quantifiziert und diagrammatisch sichtbar gemacht. Diese Wiedergabe führt zu quasi hologrammartigen Einblicken in die Veränderung von Körperschemata, Bewegungsabläufen, durchseelten Gebärden und der Ich-Präsenz. Die Stabdiagramme und Statistiken sind gut strukturiert. Am Schluss sind die Ergebnisse der von den Patientinnen im Nachhinein ausgefüllten Fragebögen eingefügt, in denen manifest wird wie lernfreudig sie sich an diesem Teil der Therapie beteiligt haben, und in welchen Bereichen sie die Heilung tatsächlich erfahren haben.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit und das Spezifische der Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Filderklinik.

Grundvoraussetzung des Anteils der Heilung der Magersucht und der Ess-Störungen ist die von Gisela Bräuner-Gülow geschilderte und auf Station angestrebte Nahtlosigkeit der Abstimmung in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit dem Facharzt, mit anthroposophischen – im Tiefstand der Krankheit überdies verabreichten schulmedizinischen – Medikamenten, mit der Pflege, der rhythmische Massage, der Kunsttherapie, der Heilpädagogik, der Psychotherapie und der Familientherapie. Aus eigener Erfahrung ist mir diese Selbstverständlichkeit der Kooperation an dieser Station5 bekannt und erweist sich als eine der besten Beispiele einer Zusammenarbeit in der anthroposophischer Medizin.

Die nicht zu unterschätzende Leistung dieser Abteilung ist die wissenschaftliche Einstufung anthroposophischer Medizin und Heilverfahren in die gegenwärtige Wissenschaft. Dass die Autoren auch die Gelegenheit zur Quantifizierung und Ausarbeitung der Daten ergriffen, ist ihr großes und einmaliges Verdienst. Doch geschah es eben auch in Zusammenhang mit dem guten Arbeitsklima der Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie unter Dr. Karl-Heinz Ruckgaber an der Filderklinik.

Es handelt sich hier grundsätzlich um eine N = l Studie einer Heileurythmistin mit über 30 Jahren Erfahrung in der Pathologie der Ess-Störungen. Voller Hoffnung wartet die Zukunft auf Duplizierbarkeit dieser Vorgehensweise, wenn auch die 'confounding' variabler Faktoren des multidisziplinären Settings und die Person der Heileurythmistin auf irgendeiner Station sich anders zusammensetzen.


Dr. med. Henriette Dekkers-Appel
aus: Der Merkurstab Heft 3. 2009. S.274 – 276

1 Bräuner-Gülow G, Gülow H: Heileurythmie bei Magersucht. S.56.
2 Das Nerven-Sinnes-System, das rhythmische System, und der Stoffwechsel-Gliedmassen-Bereich
3 Nach den unterschiedlichen Menschen-Gestaltungskräften des physischen Leibes, des Ätherleibes, des Astralleibes und der Ich-Organisation.
4 Internationales Diagnostic Statistical Manual der psychiatrischen Krankheitsbilder unterscheidet 1. restriktive Anorexia, 2. Bulimia, 3. Binge Eating Disorder, 4. Binge Eating / Purging behaviour
5 Filderklinik, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Leitender Arzt Karl Heinz Rückgaber.
 

 

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