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Auf den Dächern gegenüber Schnee

Fenster, die Ausblicke versprechen
Sigrid Nordmar-Bellebaum: Auf den Dächern gegenüber Schnee

Es gilt, auf eine Lyrikerin hinzuweisen, die nun bereits ihren sechsten Lyrikband vorlegt und sich einen wachsenden Kreis von Lesern erschließt. Was ist es, was diese Lyrik besonders macht und aus der Flut beständig neuer Lyrikproduktionen hervorhebt?
Hier zeigt sich zunächst ein ausgereiftes technisches Können. Die lyrischen Gebilde besitzen in der Korrespondenz von Anfangs- und Schlußzeilen, in der Wahl der Metaphern, ihre eigene Stimmigkeit. Eigentlich in jedem der Gedichte trifft man auf neue originelle Wortschöpfungen oder neuartige Metaphern.
Es spricht eine Lyrikerin, die “hinter die Dinge blickt” und die mit diesem Blick gelernt hat, daß der oft so ausschließlich resignative Ton der heutigen Lyrik der bestehenden Wirklichkeit nicht gerecht wird. Wohl werden die Schatten klar gesehen, Leid, existenzieller Schmerz und Trauer werden deutlich beim Namen genannt ebenso wie die von Menschen geschaffenen Desaster und Zerstörungsspuren. Doch sie kennt die Fenster; die Ausblicke versprechen. Letztlich ist der Mensch in dieser chaosträchtigen Welt nicht einzig sich selbst überlassen. Es gibt Fügung und Führung. Dies sind gewachsene Überzeugungen und feste Fundamente ihres christlich-anthroposophischen Weltbildes. Wer hier eine ideologische Festlegung vermutet, sollte tiefer blicken: Letztlich geht es um das konkrete Erleben. Sind die geschilderten Erfahrungen echt? Haben sie in der Sprechenden etwas (zutiefst) bewegt? Überträgt sich diese Erfahrung auch auf den Lesenden?
Entscheidend bleibt das Erleben. Wenn eine Lyrikerin im Anblick einer morgendlichen Wiese, von geheimnisvollem spontanem Glück überwältigt, diese Freude in die Verse faßt: “Zu singen beginnt das Gras, unendlich / zu singen beginnt das Gras”, dann ist sie ganz nahe an einer Erfahrung, wie sie in zahlreichen Zeugnissen namhafter und weniger bekannter Mystiker zum Ausdruck kommt. Erfahrungen dieser Art sind zeitlos, und selbst, wenn sie sich in das Gewand eines Glaubensbekenntnisses kleiden (wie dies im übrigen auch bei vielen mittelalterlichen Mystikern der Fall war), so behalten sie doch ihre Gültigkeit.
“Auf  den  Dächern  gegenüber Schnee” heißt der neue Band. Dies suggeriert zunächst eine Winterlandschaft - was freilich nur für den ersten kürzeren Teil des Bandes in der konkreten Bedeutung gelten könnte. Im weiteren handelt es sich um eine Metapher. Was ist der Ausdruck einer verschneiten Landschaft, einer verschneiten Haus-Nachbarschaft? - Abweisung? Kälte? Ein tiefer Schlaf? Oder das Empfinden des Behütetseins unter der weichen Schneedecke? - Es ist dies alles zugleich. Aber es ist vor allem ein Zustand, der Erstarrung und Verzauberung anzeigt - denen zugleich doch keine Dauer beschieden ist. Die Zeit der Schmelze folgt der Erstarrung im Wintereis.
Nicht wenige Gedichte nehmen Bezug zum aktuellen Tagesgeschehen (Kosovo-Krieg, Algerien-Massaker) oder wenden sich der unerlösten Vergangenheit zu (Nazi-Terror). Dies zeigt eine Lyrikerin, die sich nicht abschirmt; die bereitwillig die Leiden der Welt im Mit-Leiden teilt. Doch immer wieder wird all dieses verstörende Leid in eine besondere Art der inneren Andacht hineingeführt - eine Andacht, die Wege der Verwandlung aufzuzeigen beginnt.
In den Kapiteln II, III und IV werden auch Sommer- und Herbstlandschaften intensiv beschrieben, eine Reihe von Gedichten sind in diesem Zusammenhang dem Lebens- und Freundeskreis der Dichterin gewidmet, einzelnen, deren Wesensgestalt und Umkreis ausführlich dargestellt wird - und dies ist überhaupt nicht winterlich.
Es gibt die stilistischen Eigenheiten im Sprachduktus der Lyrikerin - manches, was zunächst auch Mühe bereiten kann. So ist eines ihrer Stilmittel eine eigenwillige Art der Zeilenbrechung, die nicht unbedingt dem Atemrhythmus folgt, sondern ein Wort, das sinngemäß der neuen Strophe zugehört, noch in der vorangegangenen Zeile beläßt (“herum-gewirbelt werden auf / des Messers Schneide”, “... der Sterne, die / aussprechen unsere Betrübnis, Mond, die / aussprechen unsere Seligkeit ...”) Das schafft etwas Drängenden, “Atemloses”, die Strophe setzt sich nicht mit ihrem Schlußwort “zur Ruhe”, sondern ein angehängtes Wort kündigt sofort den Weiterfluß an, das unvermeidliche Fortströmen. Dies wiederum liegt fern von jeder “lyrischen Geschwätzigkeit”. Im Gegenteil, das angestrebte Ziel ist immer die “knappe Formel”, das auf gedrängtem Raum zum Wesentlichen Kristallisierte. Es drückt sich eine Seelenhaltung in diesem Sprachduktus aus. Die Lyrikerin sagt selbst, daß Lyrik für sie aus einer “immerwährenden Wunde hervorströmen” müsse. In diesem Sinn ließe sich die mit den ungewöhnlichen Zeilenbrechungen korrespondierende Empfindung beschreiben wie ein beständiges inneres “Fortweinen”, das sich in der drängenden Seelenregung die Ruhe nicht gönnen kann, die erwartete Rast einzulegen.
Es ist kein Widerspruch, daß diese Lyrikerin nicht in den resignativen Tonfall moderner Lyrik verfällt, daß sie die “Fenster” möglicher Ausblicke kennt. Im Gegenteil: Der Schmerz, die “immerwährende Wunde”, entzündet sich an der erlebten Diskrepanz. Die Welt der Wunder und der Verzauberung ist real - wie jene andere real ist, in der sie sich (wie jeder andere Mensch) alltäglich behaupten muß. Zwischen diesen Welten eine Brücke zu bauen, bedeutet die immer neue, so schwierige Herausforderung. Ein Weg zu diesem Brückenschlag ist die Lyrik. Sigrid Nordmar-Bellebaum  erfüllt diese Aufgabe, in ihrer nicht nachlassenden Kreativität, mit großem innerem Engagement. Und die ihr verfügbaren Sprachwerkzeuge sind in langer Übung gereift.
Winfried Paarmann

aus: Das Goetheanum 27/2000

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